Das St. Georg-Stift zu Limburg im 16. Jahrhundert. Untersuchungen zur Personen-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.
Das Limburger St.Georg-Stift hat bisher keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung seiner Geschichte gefunden, obwohl die Quellenlage ausgesprochen günstig ist. Im Gebiet der mittleren Lahn wurden im frühen Mittealter eine ganze Reihe von Kollegiatstiften gegründet, die Mehrzahl durch Angehörige des mächtigen Geschlechts der Konradiner, so daß man hier von einer Stiftslandschaft sprechen kann. Das bedeutendste und reichste von ihnen war - neben dem Marienstift in Wetzlar - das St.Georg-Stift in Limburg, von dem Grafen Konrad Kurzbold im Jahre 910 auf einem Felsen über der Lahn eingerichtet, das von ihm mit von Ludwig dem Kind überlassenen Königsgut und eigenen Besitzungen und Rechten ausgestattet wurde.
Für die Geschichte des Mittelalters bilden die von STRUCK in vier Bänden edierten Regesten der Stifte und Klöster an der mittleren Lahn eine unschätzbare Hilfe. Sie enden jedoch mit dem Jahre 1500. Ergänzt wird dies durch die vom gleichen Autor herausgegebenen Bände der Reihe Germania Sacra zu den Kollegiatstiften St.Lubentius, St.Marien zu Diez, St.Severus in Gemünden und St.Walburgis in Weilburg. Für St,Georg fehlt es an einer solchen Publikation, obwohl viele Veröffentlichungen über die Gründung und die Entwicklung des Stifts, hier wieder vor allem von Struck und über die Baugeschichte der Stiftskirche existieren. Es fehlt jedoch weithin an neueren Arbeiten über die Geschichte des St.Georg-Stifts nach 1500.
Es liegt daher nahe, die wissenschaftliche Erforschung des St.Georg-Stifts in der Neuzeit mit Untersuchungen des 16.Jahrhunderts zu beginnen. Die zeitliche Begrenzung war auf Grund des umfangreichen Quellenmaterials, das sich in den Archiven von Wiesbaden und Koblenz, in den Bistumsarchiven und Stadtarchiven von Limburg und Trier und in Adelsarchiven befindet, notwendig.
Dieses sechzehnte Jahrhundert mit seinen gewaltigen Umwälzungen auf geistigem, religiösen und politischem Gebiet mußte und hat tiefgreifende Veränderungen für die geistlichen Institute im deutschen Sprachgebiet bewirkt, deren Weiterexistenz weithin gefährdet war. Auch das Schicksal des St.Georg-Stifts war lange ungewiß - obwohl der Trierer Kurfürst Landesherr in Limburg war -, weil der Pfandherr der einen Hälfte des Amtes Landgraf Philipp der Großmütige, einer der Vorkämpfer der Reformation, war. Zudem lag Limburg in dem am weitesten vorgeschobenen Zipfel des Kurfürstentums in einer schmalen Verbindungsstelle zwischen dem Westerwald und dem sog. Goldenen Grund .In den benachbarten Gebieten bestanden zu Anfang des 16.Jahrhunderts verwickelte Herrschaftsverhältnisse. Durch den sog. Diezer Vertrag von 1564 erfolgte hier insofern eine Klärung, als die Grafschaft Diez an Nassau fiel und Kurtrier für seinen Verzicht auf dortige Herrschaftsrechte durch einige Orte entschädigt wurde, so vor allem durch Dietkirchen, den Sitz des St.Lubentius-Stifts und des damit verbundenen Archidiakonats.
Bedrohlich für das St.Georg-Stift in seiner exponierten Randlage wurde vor allem der Umstand, daß sämtliche Nachbarterritorien im sechzehnten Jahrhundert protestantisch wurden. Dabei wurden die dort liegenden Kollegiatstifte säkularisiert. Erhalten blieb neben Limburg und Dietkirchen nur noch Wetzlar, das jedoch durch den Übertritt der Stadt zur neuen Konfession in seiner Bedeutung sehr eingeschränkt wurde.
Zu Beginn des 16.Jahrhunderts war St.Georg mit seinen 16 Kanonikaten und seinen 39 Vikarien auf 31 Altären neben dem Marienstift in Wetzlar das reichste Stift an der mittleren Lahn und damit im rechtsrheinischem Teil Kurtriers.
Bei der Personengeschichte des Stifts im sechzehnten Jahrhundert kann sich der Verfasser auf eine eigene, umfangreiche Materialsammlung stützen. Die Arbeit soll sich in ihrem personen-geschichtlichen Teil mit den Kanonikern, den Vikaren und dem übrigen Personal des Stifts befassen. Es zeigt sich, daß eine fast völlige Verbürgerlichung der Kleriker eingetreten ist, während im Mittelalter zahlreiche Pfründen in der Hand des Niederadels waren. Es steht zu hoffen, daß es gelingt - obwohl die Limburger Kirchenbücher erst im Jahre 1600 einsetzen - die Beziehungsgeflechte unter den Stiftsgeistlichen aufzuklären, die meist aus Limburg und Umgebung oder aus dem Koblenzer Raum stammten. Das System der Pfründenvergabe durch die Turnarier sowie die Möglichkeit der Permutation oder Resignation zugunsten eines anderen Klerikers erlaubten es häufig, Verwandte in den Besitz von Stiftspfründen zu bringen. Von der Mitte des Jahrhunderts an ist es möglich, die Reihenfolge der Kanoniker in den einzelnen Präbenden zu ermitteln.
Über die inneren Verhältnisse des Stifts im sechzehnten Jahrhundert läßt sich wesentlich mehr aussagen als in der vorhergehenden Zeit. Die durch die rasche Verbreitung der reformatorischen Ideen entstehende Verwirrung, ja Lähmung in altkirchlichen Kreisen erweckte in Klöstern und Stiften Zweifel an der überkommenen Ordnung; insbesondere erwartete man zumindest die Aufhebung des Zölibatgebots. Luthers Ablehnung der Messe und der Vorstellung vom Fegfeuer und der Möglichkeit, Gnaden für die Verstorbenen zu erwerben führten dazu, daß den Kanonikern und Vikaren ihr Dasein mehr oder minder sinnlos erscheinen mußte, da der Sinn ihrer Tätigkeit in der Gestaltung des feierlichen Gottes- dienstes und dem Lesen von Seelenmessen bestand. Die Kanoniker vernachlässigten ihre Pflichten, vermieden es, die höheren Weihen zu empfangen, das Konkubinat war stark verbreitet. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts suchten die Trierer Erzbischöfe mit Hilfe von Visitationen, diesen Mißständen zu steuern. Die Erzbischöfe bedienten sich bei ihrem Reformwerk nicht zuletzt solcher Geistlicher, die am Collegium Germanicum in Rom ausgebildet worden waren. Eine ganze Reihe von Stiftsgeistlichen verließ in den siebziger Jahren des Stift, begab sich die protestantischen Nachbargebiete und heiratete, zuletzt 1581 sogar der Stiftskantor. 1578 wurde der Dechant zur Resignation gezwungen und durch einen Germaniker ersetzt.
Wirtschaftlich ist das sechzehnte Jahrhundert für das St.Georg-Stift eine Zeit des Niedergangs. Im späten Mittelalter hatte das Stift seinen Fernbesitz abgestoßen, so daß es seine Einkünfte aus Limburg und den umgebenden Gebieten bezog. Mit Hilfe der im Staatsarchiv Wiesbaden vorhandenen Urkunden, Kellerei- und Präsenzrechnungen, Gültregistern und Archivalien in den Stadtarchiven von Limburg und Bad Camberg läßt sich vermutlich die wirtschaftliche Entwicklung des Stifts genauer untersuchen. Offensichtlich erlitt des Stift in protestantisch gewordenen Territorien erhebliche Verluste, so daß eine entsprechende Reduzierung der Einkünfte eintrat. Dies führte dazu, daß die Zahl der Kanonikate gegen Ende des Jahrhunderts auf 13 vermindert wurde und die Zahl der Vikarien sogar von 39 auf 13. Bei diesen wurden viele Vikarien zusammengelegt, um den Inhabern die Existenz zu ermögl-ichen. Dennoch besaß das zuvor so reiche Stift um 1600 nicht weniger als 10000 Guilden Schulden.
Das St.Georg-Stift hat die krisenhafte Zeit des sechzehnten Jahrhunderts überstanden und auch das schwierige siebzehnte. Im achtzehnten Jahrhundert kommt es sogar zu einer gewissen wirtschaftlichen Blüte, die durch die Revolutionskriege mit ihren hohen Kontributionen beendet wird. 1803 fällt das Stift der Säkularisation durch die neuen Nassauer Herren zum Opfer. Ein Ausblick auf die Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte des Stift soll die Arbeit abrunden.