Studien zur jüdischen Bevölkerung in Rheinhessen und Mainz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts war für die gesamte Bevölkerung Rheinhessens, besonders aber für die jüdischen Bewohner, eine Zeit tiefgreifender Veränderungen, die in erster Linie durch die französische Herrschaft ausgelöst wurden. Erste Ansätze zu einer Verbesserung der Lage der rheinhessischen Juden gab es schon in den letzten Jahren vor der Französischen Revolution unter dem Einfluß der Aufklärung. Markantester Einschnitt war aber sicher die erste Besetzung von Rheinhessen durch die Franzosen im Jahre 1792, der sich ab 1797/98 die französische Herrschaft mit ihren umfassenden Wandlungen in Gesellschaft und Wirtschaft anschloß. Die rheinhessischen Juden erhielten bereits 1792 - und damit vor allen anderen deutschen Juden - die verfassungsrechtliche Gleichstellung, die sie zu Bürgern gleichen Rechts und gleicher Pflichten machte. Die Einführung der Gewerbefreiheit (1798) beseitigte die Zünfte und hob zugleich die jahrhundertealten beruflichen Beschränkungen für Juden auf. Obwohl diese enormen Umwälzungen die zum überwiegenden Teil ländlichen und zudem meist armen Juden dieses Raumes weitgehend unvorbereitet trafen, waren am Beginn des 19. Jahrhunderts wichtige Voraussetzungen für eine umfassende Emanzipation der Juden - zumindest in den von Frankreich besetzten linksrheinischen Gebieten - gegeben.
In dieser Dissertation soll daher der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise die städtischen und ländlichen Juden Rheinhessens mit den veränderten Verhältnissen umgingen und wie sich dieser Wandel auf ihre wirtschaftliche und soziale Lage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgewirkt hat.
Die Grundlage dieser Dissertation bildet eine Quelle, die nach jetzigem Kenntnisstand in Deutschland in dieser Form für Juden einmalig ist, nämlich Spezialmusterlisten aus dem Jahr 1817. Als Rheinhessen 1816 ins Großherzogtum Hessen eingegliedert wurde, wurde im folgenden Jahr die Bevölkerung nach den hessischen Konskriptionsrichtlinien neu gemustert. Dazu gehörte auch die Aufstellung von Spezialmusterlisten, wobei diejenigen für Juden getrennt anzulegen waren. Die Besonderheit besteht also darin, daß für das Jahr 1817 die jüdische Bevölkerung Rheinhessens als gesonderte Gruppe in einer Vielzahl von Lebensbereichen erfaßt ist.
Die Quellenlage für Rheinhessen läßt es nach meinen Kenntnissen nun zum ersten Mal zu, die wirtschaftliche und soziale Lage der Juden für einen größeren geographischen Raum in umfassender Weise mit der der nichtjüdischen Bevölkerung zu vergleichen. Die Frage, wie die wirtschaftliche und materielle Lage der Juden aussah, und wie diese in das Sozialgefüge der Gemeinde, in der sie lebten, eingebettet waren, erhält dadurch zentrale Bedeutung. Die meisten Veröffentlichungen zu jüdischen Gemeinden zeigen, daß die Juden in dieser Zeit zum großen Teil arm gewesen sind, oft am Rande des Betteltums lebten. Es gab nur eine schmale Ober- und Mittelschicht. Dies scheint in Rheinhessen besonders mit Blick auf die Landgemeinden nicht grundsätzlich anders gewesen zu sein, aber die Vermögensangaben der Juden erscheinen zuweilen in einem anderen Licht, wenn man sie im Kontext der Vermögenssituation der Gemeinde, in der sie wohnten, betrachtet. Diese These soll folgendes Beispiel verdeutlichen:
In einer armen Gemeinde wie Kriegsheim bei Worms, in der die nichtjüdischen Gemeindemitglieder im Durchschnitt nur etwa 500 Gulden Vermögen besaßen, gehört die Familie des Juden Ludwig Strauss mit 1730 Gulden Vermögen zu den wohlhabenden Familien des Ortes, obwohl sie mit Blick auf die anderen jüdischen Familien Rheinhessens nur zum unteren Mittelstand zu rechnen ist. Nun sagt die Vermögenslage jedoch nicht alles über den sozialen Status einer Familie in einer Gemeinde aus, aber dieses Beispiel soll zeigen, wie wichtig es ist, die wirtschaftliche und soziale Lage der Juden im Kontext der nichtjüdischen Bevölkerung zu sehen.
Mit dieser Untersuchung wird also eine geographisch definierte Fallstudie angestrebt, in der sich das Leben des deutschen Stadt- und Landjudentums wie in einem Brennspiegel einfangen läßt. Das Gebiet Rheinhessens eignet sich dafür in besonderer Weise, denn einerseits gehörten die ländlichen Teile Rheinhessens zu den wenigen nicht städtisch geprägten Landstrichen in Deutschland mit einer zahlreichen, zugleich allgemein verbreiteten jüdischen Bevölkerung, andererseits gab es aber auch mit Mainz eine jüdische Großstadtgemeinde. Diese besondere Eignung des Untersuchungsraumes erlaubt eine Studie, die in weiten Teilen als repräsentativ sowohl für das deutsche Landjudentum als auch für das Neben- und Miteinander von Stadt- und Landjudentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesehen werden kann. Die bisherigen Ergebnisse erfordern aber eine umfassendere Betrachtungsweise, die auch den Kontext der regionalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte stärker in die Analyse einbeziehen muß.